Seit einigen Tagen schon waren wir quer durch Europa auf Fototour unterwegs und entdeckten dabei die verschiedensten Stadtviertel vieler Länder und auch einige Lost Places, wie heute in Seraing am Rande von Lüttich.
Heute waren wir in Liège (auch Lüttich) und steuerten an diesem regnerischen Tag eines der wahrscheinlich größten verlassenen Stahlwerke, die wir je gesehen hatten, an.
Nach unserer längeren Anfahrt nach Belgien (wir waren zuvor bei Luxemburg), befanden wir uns gerade in einem McDonald’s Restaurant vor den Toren Lüttichs. Draußen regnete es und wir probierten uns derweil durch die neuen veganen Produkte des Restaurants. Nach der Mahlzeit und einem McFlurry Eis, das mehr nach Zucker schmeckte als alles andere was wir kannten, machten wir uns auf den Weg zum Auto und kurz darauf waren wir wieder auf der Autobahn. Wir waren schon seit sechs Stunden unterwegs und mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, sodass unsere Laune wieder stieg.
Die Autobahn N63 führte uns zunächst durch recht angenehme Bereiche der Stadt bis ins Zentrum. Vorbei an einem großen Golfplatz und vier Fußballfeldern, passierten wir einen riesigen Sendemast, der zu einer militärischen Einrichtung zu gehören schien. Dann tauchten auf der linken Seite nach und nach immer mehr Häuser auf und wir näherten uns langsam der Stadt. Bisher sah Lüttich eigentlich ganz friedlich aus, bis wir kurz darauf die Türme und Hochöfen des wahrscheinlich größten verlassenen Stahlwerks Europas entdeckten. Protzig ragte ein hoher Betonturm, dem wir immer näher kamen, neben der Autobahn in den Himmel empor.
XXL Stahlwerk neben der N63 Autobahn und Maas
Als wir gerade einen ersten Überblick über die Dimension dieses Ortes erhaschen konnten, fuhren wir auch schon von der Autobahn ab und direkt auf das Betonungetüm zu.
Eine gesperrte Straße zwang uns, zunächst eine Runde um den gigantischen Komplex zu drehen, die uns durch einige schmale Seitenstraßen führte. Ein beklemmendes und irgendwie trauriges Gefühl überkam uns in dieser Gegend. Verbeulte Fahrzeuge, heruntergekommene Fassaden und sogar aufgebrochene Briefkästen entlang der gesamten Straße untermauerten dieses Gefühl. Obwohl wir nur ein par hundert Kilometer von der Heimat entfernt waren, fühlte sich Seraing wie ein Teil eines Dritte-Welt-Lands an. Die Straßen, durch die wir fuhren, waren dreckig und renovierungsdürftig.
Europas größtes verlassenes Stahlwerk
Dann tauchte vor uns plötzlich die Zufahrt zum Gelände auf – direkt am Ende einer Wohnstraße. Dort lag sie nun vor uns: die riesige verlassene Stahlproduktionsstätte von Lüttich – direkt am Rande eines Wohngebiets. Was für einen unerträglichen Lärm dieses Stahlwerk zu Betriebszeiten nur verursacht haben muss – wir konnten es nur mutmaßen. Mittlerweile waren wir auf einem großen Vorplatz angelangt und verließen den Wagen. Erfürchtig schweiften unsere Blicke über die riesigen Bauten, die so hoch waren, dass wir nicht mal das andere Ende des Geländes sehen konnten. Überall verliefen dicke Rohre und hohe Förderbänder über das Gelände. Dahinter erblickten wir einen gigantischen Hochofen, wie wir ihn schon aus dem alten Stahlwerk in Duisburg kannten. Die Stadt Duisburg ist neben ihrem etwas dreckigen, industriellem und nicht gerade schönen Ambiente, auch für zahlreiche Lost Places bekannt.
Wir sahen uns auf dem Vorplatz um und drehten eine kleine Runde, ehe wir unsere Ausrüstung zusammenpacken wollten. Vor uns standen mehrere Transporter, einige Baucontainer und ein Lkw, aus dem gerade ein Fahrer sprang und auf uns zulief. Auf Englisch gab er uns zu verstehen, dass dieser Ort gerade abgerissen werde und wir einige der letzten seien, die sich das Gelände noch ansehen können. Dann gab er uns mit einem Wink zu verstehen, dass er uns nicht stören würde und so machten wir uns auf den Weg zum Auto, um unsere Ausrüstung zu holen.
Der Weg durch das Belgische Stahlwerk
Über uns verliefen riesige Förderbänder und Rohre und wir staunen noch mehr, als dahinter noch unfassbar viele weitere dieser Rohre auftauchen. Augenscheinlich völlig durcheinander zogen sich die rostig-braunen Röhren durch die Luft und wir fragten uns, wie man hier bloß den Überblick behalten konnte.
Riesiger Hochofen „Blast Furnice Bernard“
Relativ im Zentrum des riesigen, verlassenen Stahlwerks in Belgien, ragt ein großer Hochofen, bekannt als Blast furnace HFB Ougree, in den Himmel. 1962 erbaut, konnte dieser der Hochofen Haut-Fourneau 6 Seraing rund 2000 Tonnen Eisen am Tag produzieren. Rund um dieses Herzstück der großen Anlage, wurden diverse Abschnitte der Eisenproduktion errichtet.
So gab es einen Güterbahnhof, der im Osten des Komplexes betrieben wurde. Er schloß an einen weiteren, riesigen Güter- und Rangierbahnhof an, der sich weiter östlich, hinter ein par Häusern und der N90 befand und heute noch in Betrieb ist.
Auf dem Gelände gab es für den Güterverkehr gleich mehrere Rangierloks, für die eine Wartungs- und Lagerhalle im zentralen Teil des Rangierbahnhofs im Stahlwerk bereitstand. Über ein langes Netz an Förderbändern, das über ein großes Kohledepot mit eigenem Port bis zu einem weiteren Stahlwerk im Westen führte, wurde das Stahlwerk an der Maas mit Kohle beliefert. Die Förderbänder führten hinter den Schienen und über der N63, westlich des Stahlwerks, entlang. Heute sind sowohl das große Kohledepot, als auch das zweite Stahlwerk stillgelegt. Ab 2008 geriet die Produktion mit der Wirtschaftskrise ins stocken, bis die Anlage schließlich 2014 geschloßen wurde. Seitdem stehen die riesigen Anlagen still.
Ein Stückchen weiter ragt ein riesiger Betonblock in den Himmel empor. Auf dem 3,5 Quadratkilometer Stahlwerk sieht jede Ecke anders aus. Ohne Satellitenkarte hätten wir hier längst die Orientierung verloren.
Wir gelangten auf eine große Fläche, auf der mehrere unidentifizierbare Metallstücke und große Haufen Schutt lagen. Eigentlich sollte hier eines der markanten Details dieses Ortes stehen: eine riesige, runde Waschanlage für Rohstoffe. Das große, stählerne Karussell, über dem einige Wasserdüsen angebracht waren, war allerdings komplett verschwunden. So groß war unsere Enttäuschung jedoch nicht, da wir uns kurzerhand entscheiden, einen Blick in die gigantische, nebenstehende Halle zu werfen.
Ein eigenes Kraftwerk für die Stahlfabrik
Die Halle maß etwa 130m in der Breite und war links und rechts von je einem etwa 40m hohem Turm begrenzt. In der Halle stand eine große Turbine, die von etlichen Rohren und Schläuchen umgeben war. Hier wurden Abgase der Hochöfen aus dem nördlicheren Komplex zu Elektrizität weiterverarbeitet.
Zu dem gigantischen Gelände gehörte auch ein eigenes Kraftwerk, das Elektrizität für den Betrieb der schweren Anlagen lieferte. In der großen Turbinenhalle standen bei unserem Besuch noch die Generatoren und Turbinen, die unter einem hohen Metalldach, das mit etlichen Stahlträgern gestützt wurde, zwischen endlos vielen Kabelisolierungen und Bergen am Müll standen. Einige Sonnenstrahlen fielen durch ein großes Loch im Dach der Halle, welche die alten Maschinen merkwürdig anleuchteten. In einem abgekapselten Raum standen alte Kontrollpulte für die Turbinen, dahinter erstreckte sich ein verwinkelter Büro- und Sicherungsbereich. Ein Stückchen weiter befand sich sogar ein Labor, in dem es offenbar mal gebrannt hatte. Trotzdessen standen hier viele stark verfärbte Flaschen und Kanister, die mit unidentifizierbaren Flüssigkeiten gefüllt waren.
Aus dem Gasturbinenkraftwerk führten einige dicke Rohre heraus, die eine ähnliche Route, wie die Förderbänder für Kohle nahmen. Diese Rohre reichten über das bereits beschriebene Kohleterminal an der Maas, bis zu dem zweiten Stahlwerk im Westen. Von hier aus führten noch dickere Rohre direkt in ein Gasturbinenkraftwerk neben der N90, das zu dem Schwerindustrie Komplex gehörte.
Wir verließen die Turbinenhalle des XXL Stahlwerks über eine Türe, hinter der wieder das Tageslicht errstrahlte und wir blickten über ein Labyrinth aus Rohren und Metallstreben. Dann begaben wir uns auf dem Weg aus dem riesigen Stahlkomplex. Es war wirklich unglaublich, was für ein Industriemonster hier verlassen wurde. Es musste einen unglaublichen Lärm und Dreck zu Betriebszeiten verursacht haben – ein wahrer Horror für die Anwohner, die teils keine 50 Meter von dem Stahlkomplex entfernt wohnten.
Heute werden die alten Anlagen auf dem Lost Place in Lüttich demontiert und es ist ungewiss, ob die großen Hallen, wie die Turbinenhalle oder gar der riesige Betonbau, erhalten bleiben. Ehemalige Werkshallen, die sich im südlichen Teil des Komplexes unter der Rue de Ronery befanden, wurden renoviert und dienen derzeit als Lager- und Produktionsort für Eisenbahnräder.